„Sie können mir glauben, ich habe mich in den letzten 20 Jahren bei der Arbeit mit den Werken Joachims keinen Moment gelangweilt“, versicherte Prof. Dr. Alexander Patschovsky bei seinem Vortrag im Institut der MGH am 2. Dezember 2024 anlässlich des Erscheinens der kritischen Edition des umfangreichsten Werks Joachims, des Apokalypsenkommentars, seinen rund 70 Zuhörerinnen und Zuhörern.
Dem Publikum im MGH-Lesesaal wie auch den über Stream Teilnehmenden aus den USA, England, Italien, der Schweiz, Österreich und Deutschland vermittelte Patschovsky anschaulich seine Begeisterung für die Theologie das kalabrischen Ordensgründers, als deren Einzigartigkeit er die Semantisierung der Geschichte bezeichnete. Während zum Beispiel bei Augustinus die Geschichte jederzeit enden könne, seien bei semantisierter Geschichte Anfang und Ende als Bedeutungsgebilde definiert: Der Mensch als sündiges Wesen müsse sozusagen durch die Kernschmelze der drei Zeitalter, die mit der Trinität Gottes korrespondieren, von den Schlacken gereinigt werden, um vom geplagten Erdendasein ins Himmelsdasein zu kommen. Am Ende stehe ein paradiesischer Zustand für alle.
Laut Patschovsky hätte Joachim mit seinem holistischen Modell der Trinität Theologen eigentlich eine interessante Arbeitsgrundlage geboten. Allerdings widersprach der Süditaliener dem Trinitätsverständnis des in Paris lehrenden Petrus Lombardus, was zur Folge hatte, dass Joachims Auffassung der Trinität auf dem 4. Laterankonzil 1215 als häretisch verurteilt wurde. Dieser Ruch der Häresie verhinderte in den folgenden Jahrhunderten die Auseinandersetzung mit Joachim von Fiore im theologischen „main stream“.
Mit dem Apokalypsenkommentar schließt Alexander Patschovsky seine kritische Edition von Joachims Trilogie ab, bestehend aus dem Psalterium decem cordarum, das die hermeneutische Grundlage für Joachims Auslegungen schafft, der Concordia Novi ac Veteris Testamenti als realgeschichtliche Analyse und dem Apokalypsenkommentar als gesellschaftskritische Entfaltung von Joachims Philosophie. Die Trilogie, bisher nur in schwer lesbaren Venezianer Frühdrucken benutzbar, liegt nun in Kooperation zwischen dem Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, das für die gesammelten Werke Joachims federführend ist, und den MGH als kritische Ausgabe in der MGH-Reihe Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters vor.