In loser Folge stellen wir Ihnen Stücke aus unserem Archiv und unserer Bibliothek vor. Hier finden Sie Raritäten wie auch Dokumente, die die Entwicklung der Monumenta Germaniae Historica prägten. Die MGH wünschen viel Spaß auf der Entdeckungsreise!
Am 29. April 1933, einem Samstag, berief Paul Fridolin Kehr, seit 14 Jahren Vorsitzender der Zentraldirektion der MGH, sechs Mitglieder der Zentraldirektion zu einer Ausschusssitzung ein, über die ein Verlaufsprotokoll erhalten ist. Kehr berichtete über sein Gespräch mit dem Reichsminister des Inneren, Wilhelm Frick, einem der führenden Köpfe beim Aufbau der NS-Diktatur: "Der Herr Reichsminister habe den besten Willen gezeigt, sei aber vom Finanzministerium abhängig." Bei dem Gespräch ging es um wichtige Themen: Finanzierungsfragen und die weitere Besetzung des Vorsitzes der Zentraldirektion.
Da in den vorangegangenen zwei Jahren der von der Reichskasse an die MGH gezahlte Betrag auf die Hälfte geschrumpft war, machte Kehr deutlich, dass er unter diesen Bedingungen die Geschäfte ab 1934 nicht weiterführen könne. Er regt deshalb eine dringende Eingabe der Zentraldirektion wegen Erhöhung der Mittel an. Unter dem Tagesordnungspunkt Rechnungswesen berichtete Kehr, dass von den Monumenta die Erklärung verlangt werde, dass im Falle ihrer Auflösung ihr "ganzes Vermögen an das Reich falle".
Innerhalb von nur drei Monaten nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler hatten sich die Verhältnisse bereits deutlich geändert. Am 11. April 1933 waren die MGH, bezeichnet als "nachgeordnete Behörde", mit Bezug auf eine der ersten antijüdischen Gesetzesmaßnahmen des neuen Regimes, dem sogenannten "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933, "ersucht" worden, jüdische Beamte, Angestellte und Arbeiter zu beurlauben und darüber Bericht zu geben. Kehr antwortete am 16. April in aller Kürze, "(...) dass während meiner Amtsführung kein jüdischer Beamter, Angestellter oder Arbeiter beschäftigt worden ist" (zitiert nach Fuhrmann, S. 161).
Auch in diesem Zusammenhang ist das Sitzungsprotokoll vom 29. April 1933 interessant. Wie auf den Sitzungen der Zentraldirektion üblich, gab Kehr einen Überblick über den Stand der Arbeiten. Im Protokoll ist zur Abteilung "Scriptores" unter anderem zu lesen: "Die Arbeit an den Ann. Plac. Gib., die Herr Prof. [Ernst] Kantorowicz in Frankfurt a.M. übernommen hatte, ist durch dessen starke Inanspruchnahme im Lehramt ins Stocken geraten." Im Bericht zur Abteilung "Leges" von Ernst Heymann heißt es: "Die Arbeit an der großen Ausgabe (unter Leitung von Herrn Prof. [Claudius] von Schwerin) schreitet, namentlich durch Frl. Dr. [Erika] Sinauer gefördert, sehr rüstig fort; diese bereitet eine große Arbeit über die Entwicklung der Glossenforschung vor." Und zu den Concilia informiert Kehr die Anwesenden: "Über die Concilia hat Herr Prof. Perels keinen Bericht geschickt. Er ist bereit, den unvollendeten Band von Laehr (dabei auch die Hincmarbriefe) fertig zu machen." Der jüdisch stämmige Ernst Kantorowicz emigrierte fünf Jahre später zuerst nach Oxford und von dort in die USA. Die jüdisch stämmige Erika Sinauer wurde 1942 im KZ Ausschwitz ermordet. Ernst Perels hatte einen jüdischen Vater und wurde deshalb 1935 von der Friedrich-Wilhelms-Universität zwangspensioniert und 1944 wegen der Beteiligung seines Sohnes Friedrich Justus Perels an dem gescheiterten Attentat auf Hitler im KZ Buchenwald inhaftiert, später ins KZ Flossenbürg verlegt, wo er wenige Wochen nach Befreiung des Lagers 1945 an Entkräftung starb.
A. Marquard-Mois
Schnellbrief des Reichsministers vom 11.4.1933 und Antwort Paul Fridolin Kehrs vom 16.4.1933 in: Fuhrmann, Horst: „Sind eben alles Menschen gewesen.“ Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert (1996), S. 161
Mehr zu dieser MGH-Archivalie im Beitrag von Karel Hruza: Eine zwiespältige Angelegenheit? Paul Fridolin Kehr und eine Ausschußsitzung der MGH-Zentraldirektion 1933 in Berlin (mit Edition des Protokolls).