Aktuelles , Schätze aus Archiv und Bibliothek | 24. Feb. 2024

Schätze aus 200 Jahren MGH-Geschichte – Folge 21: Eine stilvolle Einladung

In loser Folge werden Stücke aus unserem Archiv und unserer Bibliothek vorgestellt: Raritäten und Dokumente mit besonderer Geschichte wie auch Schriftstücke, die Einblicke in die Jahre der NS-Diktatur erlauben.


Vor 139 Jahren lud der Vorsitzende Georg Waitz mit einem kalligraphisch gestalteten Schreiben die Zentraldirektoren1 der Monumenta zur Jahressitzung ein. Die Einladung an Wilhelm Wattenbach blieb – wiederverwendet als Umschlag - in den Geschäftsakten der MGH erhalten, überdauerte den zweiten Weltkrieg im Keller der Berliner Universität, wurde 1946 in das Geheime Staatsarchiv nach Berlin-Dahlem überführt und 1975 den MGH zurückgegeben.


Sowohl der Absender als auch der Empfänger dieser Einladung haben für Historiker einen klingenden Namen; der eine vor allem wegen seiner Überarbeitung der Quellenkunde zur deutschen Geschichte („Dahlmann-Waitz“) und seine Deutsche Verfassungsgeschichte, der andere wegen seines Hauptwerkes „Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter“. Für die MGH waren beide seit ihren frühen Zwanzigern tätig. Ab 1836 arbeitete Georg Waitz als sogenannter „gelehrter Gehilfe“ für den Leiter der MGH, Georg Heinrich Pertz, und sollte dadurch seinem Leben eine entscheidende Wendung geben, wie man anhand eines Briefes sehen kann, in dem der junge Mann kurz vor seiner Einstellung bei den MGH Folgendes schrieb: „(...) ich lebe eigentlich sehr leichtsinnig in den Tag hinein, nur für die nächste Zukunft bedacht, das folgende dem Zufall, oder wie man es nennen will, überlassend; ich gedenke nun im Sommer zu promovieren, vermutlich hier, es käme mir dann darauf an, einige Jahre zur weiteren Ausbildung und zur größeren Reife meiner Studien zu gewinnen, ohne doch länger meinen guten Eltern zur Last zu sein. (...) Ranke spricht viel davon, ich solle mich mit Pertz zur Teilnahme an seinen Arbeiten verbinden; an Lust fehlte es mir dazu gewiß nicht, aber ob nicht an allem andern? Jedenfalls mag ich darüber nicht entscheiden“ (Georg Waitz an Johann Martin Lappenberg, 19.3.1836, zitiert nach Bresslau S. 221).


1843 – Waitz hatte mittlerweile einen Ruf nach Kiel bekommen – trat der sechs Jahre jüngere Wilhelm Wattenbach ebenfalls als gelehrter Gehilfe bei Pertz ein. Er blieb auch nach seiner Habilitation 1851 noch in dieser Stellung, bis er nach einigen erfolglosen Bewerbungen 1855 die Leitung des schlesischen Provinzialarchivs in Breslau antreten konnte. Der nationalliberale Georg Waitz engagierte sich in Kiel politisch in den Auseinandersetzungen um die nationale Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig und wurde 1848 zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt, worauf er noch in späteren Jahren stolz verwies2.


Beide Gelehrten verfolgten ihre wissenschaftliche Laufbahn weiter. Wattenbach ging als Lehrstuhlinhaber erst nach Heidelberg, dann nach Berlin, Waitz nach Göttingen, wo er „eine überaus fruchtbare Lehrtätigkeit mit internationaler Ausstrahlung entfaltete“ (Schieffer, Waitz). Waitz‘ Schüler waren zahlreich in Archiven und auf Lehrstühlen vertreten. Parallel führten Waitz und Wattenbach die Editionsarbeit für die MGH fort. 1875 wurde unter Beteiligung der Akademien in Berlin, Wien und München dem mittlerweile autokratischen Regime des alten Pertz ein Ende gesetzt, die MGH wurden reorganisiert (siehe Folge 9: Der schwere Weg vom Gelehrtenverein zur Wissenschaftseinrichtung). Die neu gebildete Zentraldirektion wählte Georg Waitz als ihren Vorsitzenden. Bresslau würdigte ihn in seiner Geschichte der MGH als den „erste[n] Mitarbeiter der alten und erste[n] Leiter der neuen Zentraldirektion“, der 50 Jahre „einen guten Teil seiner Lebensarbeit“ den MGH gewidmet habe (Bresslau, S. 617). Wattenbach als Mitglied der neu gebildeten Zentraldirektion leitete die Abteilung Epistolae und übernahm die Redaktion des Neuen Archivs, er habe „wesentlichen Anteil am Aufschwung in der Ära Waitz“ gehabt, urteilte Rudolf Schieffer (Schieffer, Wattenbach).


So sehr sich die beruflichen Lebenswege von Verfasser und Empfänger der Einladung ähnelten, so sehr unterschied sich das Privatleben von Waitz und Wattenbach. Über die wissenschaftlichen Leistungen von Waitz und Wattenbach kann an anderer Stelle nachgelesen werden (siehe u.a. Literaturangaben am Ende des Beitrags), an dieser Stelle sei ein Blick in die familiäre Situation von Absender und Empfänger erlaubt.


Georg Waitz (1813-1886) war zum Zeitpunkt der Sitzung – wie auch Giesebrecht, Hegel und Euler – bereits 71 Jahre alt. 1842 hatte er Clara Schelling, eine Tochter des bekannten Philosophen, geehelicht und mit ihr sieben Kinder bekommen. Nach dem Tod Claras im Kindbett 1857 vermählte sich der 47-jährige Waitz 1861 mit der 30-jährigen Helene Franziska Friederike von Hartmann. Diese Ehe blieb kinderlos. Seine jüngste Tochter heiratete 1877 mit 20 Jahren ebenfalls einen älteren Mann, den 38-jährigen Ernst Steindorff, einen Schüler ihres Vaters. Im Werk von Georg Waitz sticht die zweibändige Ausgabe der Briefe einer Frau heraus: Caroline, geborene Dorothea Caroline Albertine Michaelis, verwitwete Böhmer, geschiedene Schlegel, verheiratete Schelling (1763-1809). Der Vater von Georg Waitz‘ erster Frau, der Philosoph Friedrich Schelling, hatte in erster Ehe diese herausragende Persönlichkeit der Frühromantik zur Frau genommen. Caroline hatte nicht nur über die Werke ihrer Ehemänner großen Einfluss auf Kultur und Gesellschaft, sondern in ihren Beziehungen und politischen Einstellungen ein äußerst unangepasstes Leben geführt. Möglicherweise interessierte sich Waitz, selbst als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung politisch tätig gewesen, mehr für das politische Engagement Carolines als für die familiären Verknüpfungen. Bereits während seiner ersten Ehe hatte er mit der Materialsammlung begonnen: „Seit zwanzig Jahren habe ich an diesen Briefen gesammelt, die ich zum Theil den hinterbliebenen Nachkommen der Empfänger verdanke, mit denen mich verwandtschaftliche Bande verknüpfen“ (Waitz, Caroline, S. VI).


Wilhelm Wattenbach (1819-1897) hingegen lebte als ewiger Junggeselle mit seinen ledigen Schwestern Sophie und Cäcilie zusammen. Sophie verstarb 1866 mit 58, Cäcilie 1883 mit 68 Jahren. Erst 1885, neun Tage nach der Sitzung, deren Einladung im MGH-Archiv erhalten geblieben ist, ging der mittlerweile 65-jährige Wattenbach mit seiner 35-jährigen Cousine Marie Theresia Antonie von Hennings erstmals den Bund der Ehe ein. Die Ehe blieb kinderlos. Seine Frau sollte ihn um 35 Jahre überleben.


Nach dem überraschenden Tod von Georg Waitz 1886, ein gutes Jahr nach besagter Sitzung, übernahm Wilhelm Wattenbach interimistisch den Vorsitz der Zentraldirektion der MGH, erlangte jedoch nicht die notwendige Zustimmung des Reichsamts des Inneren, so dass nach längerem Ringen 1888 Wattenbachs Schüler Ernst Dümmler (1830-1902) zum neuen Vorsitzenden ernannt wurde.


Die Zentraldirektion der MGH tagt nach wie vor jährlich (oder besser gesagt: seit 1946 wieder); seit einigen Jahren im März – wie 1885.


1 Mitglieder der Zentraldirektion 1885 waren neben Georg Waitz die ebenfalls in Berlin ansässigen Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel, Julius Weizsäcker und Wilhelm Wattenbach, Wilhelm von Giesebrecht aus München, Karl Hegel aus Erlangen, Ludwig Euler aus Frankfurt am Main, Ernst Dümmler aus Halle, Theodor von Sickel und Friedrich Maassen aus Wien. Ernst Dümmler war mit 55 Jahren der jüngste; Georg Waitz, Wilhelm von Giesebrecht, Karl Hegel und Ludwig Euler mit 71 Jahren die ältesten.
2 1881 schrieb Georg Waitz in ein Gedenkalbum: „Das Frankfurter Parlament war eine Schule für den Einzelnen wie für das Deutsche Volk, an deren wohlthätigen Einfluss die Mitglieder immer glauben werden“ (MGH-Archiv B 851/3,4).

Annette Marquard-Mois


Transkription MGH-Archiv 338/55


Berlin, den 24. Februar 1885.


Zur diesjährigen Plenarversammlung der Centraldirection der Monumenta Germaniae beehrte ich mich auf Montag den 30 März ganz ergebenst einzuladen. Die erste Sitzung wird an dem genannten Tage Morgens 11 Uhr in dem Local der Königlichen Akademie der Wissenschaften stattfinden.


Der Vorsitzende der Centraldirection der Monumenta Germaniae
G. Waitz



Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica im Auftrage ihrer Zentraldirektion (1921)


Enno Bünz, Die Monumenta Germaniae Historica 1819-2019. Ein historischer Abriss, in: in: Mittelalter lesbar machen. Festschrift 200 Jahre Monumenta Germaniae Historica (2019) S. 15-36


Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter (1996)


Herbert Grundmann, Monumenta Germaniae Historica 1819-1969 (1969)


Rudolf Schieffer, Waitz, Georg, in: Neue Deutsche Biographie 27 (2020) S. 268-269 [Online-Version]


Rudolf Schieffer, Wattenbach, Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie 27 (2020) S. 452-454 [Online-Version]


Georg Waitz (Hg.), Caroline. Briefe an ihre Geschwister, ihre Tochter Auguste, d. Familie Gotter, F. L. W. Meyer, A. W. und Fr. Schlegel, J. Schelling u.a. nebst Briefen von A. W. u. Fr. Schlegel u.a. (1871)


Georg Waitz, Ueber die Zukunft der Monumenta Germaniae historica, in: Historische Zeitschrift 30 (1873) S. 1-13


Kurt Wattenbach, Wattenbach – Stammfolge aus Mittelfranken in Schleswig-Holstein, Hamburg und London, in: Blätter für fränkische Familienkunde 25 (2002) S. 101-124


Das handschriftliche Protokoll der elften Plenar-Versammlung der Zentraldirektion ist im MGH-Archiv erhalten (MGH-Archiv 338/38; Digitalisat ab S. 159).

Georg Waitz, Bericht über die elfte Plenarversammlung der Central-Direction der Monumenta Germaniae. Berlin 1885, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 11 (1886) S. 1-8