„Lieber Herr Baethgen, Einen kurzen Aufenthalt in Königsfeld benutze ich um gleichzeitig mit diesem das Paket für die Monumenta G. H. an Sie abzusenden. Hoffentlich kommt es gut an und verursacht Ihnen die Durchsicht der Briefe nicht zuviel Arbeit! Für eine kurze Empfangsbestätigung wäre ich Ihnen sehr dankbar. Mit dankbaren Grüssen Helene Schweitzer-Bresslau“ ist in großzügiger Handschrift auf der Rückseite zu lesen.
Helene Schweitzer-Bresslau, zu dem Zeitpunkt 72 Jahre alt, war die Tochter von Caroline Isay und Harry Bresslau, dem großen Historiker und Diplomatiker, der sich zeitlebens darum bemüht hatte, als deutscher Bürger jüdischer Abkunft akzeptiert zu werden. In dem Berliner Antisemitismusstreit von 1879/80 reagierte Bresslau auf die Polemik Heinrich von Treitschkes in einem sachlichen öffentlichen Brief. 1888 wurde Harry Bresslau in die Zentraldirektion der MGH gewählt und gehörte ihr bis zu seinem Tod 1926 an. Neben seiner Editionsarbeit hat er für die Monumenta große Bedeutung als Verfasser der „Geschichte der Monumenta Germaniae historica“, erschienen 1921. Beauftragt von der Zentraldirektion hatte sich Bresslau ab 1916 dem immensen Archivmaterial angenommen und auf 750 Seiten die Entwicklung der ersten hundert Jahre MGH dokumentiert.
Aber wie kommt die Postkarte aus Lambarene ins MGH-Archiv?
Bresslaus Tochter Helene heiratete 1912 Albert Schweitzer, mit dem sie eine Vision teilte: „Wir begegneten einander in dem Gefühl der Verantwortlichkeit für all das Gute, was wir in unserem Leben empfangen hatten, und in dem Bewusstsein, dass wir dafür zu bezahlen hätten durch Hilfeleistung gegenüber anderen“ schrieb sie später einem englischen Freund. Das junge Ehepaar ging 1913 nach Gabun, damals Französisch-Äquatorialafrika - er Arzt und Theologe, sie neben zwei Studien auch Krankenschwester. Zu Beginn behandelten sie Patienten im Hühnerstall der schon existierenden französischen Missionsstation Andende: der Anfang des berühmten Urwaldhospitals Lambarene! Eine schwere Tuberkulose, ausgelöst durch das strapaziöse Klima in Lambarene sowie kriegsbedingt harte Lebensumstände, und die Geburt der Tochter Rhena 1919 führten dazu, dass Helene Schweitzer-Bresslau nicht mehr kontinuierlich an der Seite ihres Mannes in Lambarene bleiben konnte. Ihr Leben verbrachte sie zwischen dem Familienhaus im Schwarzwald, Lausanne, wohin sie mit ihrer Tochter 1933 zog, Frankreich, internationalen Reisen und kürzeren Aufenthalten in Lambarene.
Weit verstreut
Die Witwe Harry Bresslaus, Caroline Bresslau-Isay, überlebte ihren Mann um fünfzehn Jahre und wohnte bis zu ihrem Tod 1941 in Heidelberg. Ihr älterer Sohn Ernst war mit seiner Frau Luise Bresslau-Hoff 1934 nach Brasilien emigriert, der jüngere Bruder Herrmann war bereits 1913 verstorben. Der umfangreiche Nachlass Harry Bresslaus, und anscheinend insbesondere die Korrespondenz, landete – soweit es sich überhaupt nachvollziehen lässt – mit Tochter Helene zum Teil im Schwarzwald, zum Teil in Lausanne, mit Sohn Ernst zum Teil in Brasilien.
Am 28. Mai 1951 wandte sich Helene Schweizer-Bresslau mit den Worten „Ob Sie nach so langen Jahren sich meiner erinnern, wage ich zu bezweifeln“ an MGH-Präsident Baethgen. Der antwortete umgehend: „... selbstverständlich erinnere ich mich genau an Sie, wie mir das ganze Haus Ihres hochverehrten Herrn Vaters in voller Lebendigkeit vor den Augen steht. Ich brauche kaum ausdrücklich zu sagen, dass ich seinen Nachlass sehr gern für die Monumenta Germaniae als Depot übernehmen werde und dass ich es als eine hohe Ehre betrachte“. Die Erleichterung ist förmlich aus dem nächsten Brief Helene Schweitzer-Bresslaus herauszuhören, den sie am 21. Juni 1951 aus Gunsbach/Frankreich schreibt, aus dem Elternhaus ihres Mannes, heute Musée Albert Schweitzer: „Sobald ich wieder nach Königsfeld komme – vermutlich im Lauf des nächsten Monats, wenn ich auch noch keinen festen Termin dafür angeben kann – werde ich den für die M.G.H. bestimmten Teil der nachgelassenen wissenschaftlichen Correspondenz meines Vaters an Sie abgehen lassen.“ Dem Paket aus Königsfeld im Schwarzwald legte sie dann am 2. Juli besagte Postkarte bei.
Gruß von Albert Schweitzer
Zwei Wochen später schrieb Helene Schweitzer-Bresslau noch einmal aus Frankreich an Baethgen, um zu bestätigen, dass die Briefe für wissenschaftliche Zwecke verwertet werden dürften „Mir ist es ein Anliegen Ihnen nochmals für Ihr so freundliches Entgegenkommen und die Übernahme der Verwahrung der Briefe herzlichst zu danken, mit dem Wunsch dass Ihnen keine Bemühung daraus erwachsen möge.“
Darunter in einer kleinen konzentrierten Schrift ein persönlicher Gruß des späteren Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer: „Sehr geehrter Herr Baethgen. Es drängt mich, Ihnen zu sagen, wie sehr es mich freut, dass die Briefe meines lieben Schwiegervaters, die auf die Monumenta Bezug haben, nun an dem Orte sind, wohin sie gehören! Ich weiss ja, dass er für die Monumenta nicht nur arbeitete, sondern auch lebte. Herzlichst Ihr ergebener Albert Schweitzer“
Die Bemühungen, den Nachlass Bresslau zu ordnen, nahmen auf Drängen der Westdeutschen Bibliothek (heute Universitätsbibliothek) in Marburg einige Jahre später wieder Fahrt auf. Das Schicksal dieses Nachlasses, der durch viele Hände (und Länder) wanderte, bildet sich im heutigen Bestand der MGH ab.
Annette Marquard-Mois
Abbildung von Nobelpreisverleihung in Oslo 1954 aus: Verena Mühlstein: Helene Schweitzer Bresslau: Ein Leben für Lambarene. München, 1998, S. 264.