„Es ist eine der trübsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit, mit welchem Schmerz und mit welcher Bitterkeit es mich erfüllte, wenn mir als siebenjährigem Knaben, der sich keiner Schuld bewusst war und von nationalen Unterschieden noch wenig verstand, die Buben auf der Straße schmähend Jude nachriefen.“ Diese Erinnerung des großen Monumentisten Harry Bresslau an das Jahr 1855 griff die stellvertretende Direktorin des Jüdischen Museums München, Jutta Fleckenstein, in ihren einleitenden Worten zu dem Podiumsgespräch über antisemitische Mechanismen im universitären Umfeld auf, das das Museum gemeinsam mit den Monumenta Germaniae Historica am 17.1.2024 veranstaltete.
Die MGH hatten im Herbst 2023 in dem Sammelband „Zwischen Vaterlandsliebe und Ausgrenzung“ die Lebenswege ihrer jüdischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im 19. und 20. Jahrhundert veröffentlicht. Dieses Buch war der Anlass für die gemeinsame Veranstaltung; in Anbetracht des hochkommenden Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 in seiner Bedeutung verstärkt, wie Martina Hartmann einleitend betonte: „Wir dürfen nicht nachlassen, uns mit diesem Thema zu beschäftigen und die Dinge historisch aufzuarbeiten.“
Magnus Brechtken, stellv. Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München (IfZ), Martina Hartmann, Präsidentin der MGH, Kristina Milz, IfZ und Bayerische Akademie der Wissenschaften und Stefan L. Wolff, Forschungsinstitut für Technik- und Wissenschaftsgeschichte / Deutsches Museum, widmeten sich im Gespräch den komplexen Fragen, die sich bei der biografischen Forschung zu deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern jüdischer Herkunft auftun.
Das Publikum, das trotz prognostiziertem Eisregen den Weg in das Jüdische Museum am St. Jakobs-Platz gefunden hatte, wurde mit reichen Informationen sowie fundierten Aussagen und Einsichten zu Antisemitismus, Opfer-Täter-Dynamik, Umgang mit der NS-Vergangenheit 1945 bis heute - in der Gesellschaft und in einzelnen Institutionen - belohnt, um nur einige Themen zu nennen. Anschaulich wurden die diskutierten Themen durch zahlreiche biografische Beispiele.
Ein Beitrag aus dem Auditorium illustrierte die Schüler-Lehrer-Abhängigkeiten und universitären Gepflogenheiten, die eine Aufarbeitung der Täterschaft verhinderten und bis heute nachwirken. Die schmerzhafte Diskrepanz zwischen dem religiösen, kulturellen, gesellschaftlichen Selbstverständnis von Deutschen jüdischer Herkunft und einer aufgezwungenen Identität, in der NS-Diktatur Grundlage des Holocausts, wurde eindrücklich spürbar durch den autobiografischen Beitrag einer Teilnehmerin.
Der Abend zeigte, dass sich bei den angesprochenen Themen jede Verallgemeinerung verbietet und die einzelnen Persönlichkeiten in ihrer individuellen Identität wahrgenommen werden müssen. „Der Patriot sollte nicht behaupten, was der Historiker nicht verantworten kann.“ Diese Aussage von Harry Bresslau von 1880 gilt auch heute noch.