Rudolf Pokorny, in Aachen geboren, studierte an der dortigen RWTH und wurde 1979 vom damaligen MGH-Präsidenten Horst Fuhrmann nach München geholt, um seine Dissertation, die Edition der Bischofskapitularien der Karolingerzeit, zu vollenden. Die Bischofskapitularien gehörten – genau wie die Konzilien – zum Editionsplan Fuhrmanns für die MGH (der große Umfang dieser Quellengattung war damals allerdings noch nicht annähernd erfasst). Ein erster Band mit den Bischofskapitularien Theodulfs von Orléans, herausgegeben von Peter Brommer, erschien 1984, wobei der von April 1982 bis zum Jahresende 1986 im Rahmen eines DFG-Projekts eingestellte Rudolf Pokorny an der Fertigstellung beteiligt war. In den folgenden Jahren sorgte Pokorny dafür - wie Horst Fuhrmann es einmal ausdrückte - sein Dissertationsprojekt durch immer neue Funde bislang unbekannter Bischofskapitularien zu erweitern. Charakteristisch für die Forscherpersönlichkeit Pokornys waren seine Neufunde in Handschriften, die nicht nur Kapitularien, sondern auch andere Quellen umfassten, die in der Folge von ihm ediert wurden. „Neu aufgefunden“ und „unediert“ sind Begriffe, die immer wieder im Titel seiner zahlreichen Publikationen auftauchen. Zeitweise publizierte Rudolf Pokorny in jedem Jahrgang des Deutschen Archivs eine Entdeckung. Für seine Dissertation wurde er 1991 mit dem Fakultätspreis der RWTH Aachen ausgezeichnet.
Als 1995 der zweite und dritte Band der Capitula episcoporum erschienen, denen ein abschließender Band mit Gesamteinleitung im Jahr 2005 folgen sollte, beschäftigte sich Pokorny bereits fern von München mit anderen Themen: 1986/87 hatte er ein Stipendium des Deutschen Studienzentrums in Venedig erhalten und Ende 1987 hatte ihn Hartmut Hoffmann als Assistenten an die Universität Göttingen geholt. Zusammen publizierten Hoffmann und Pokorny 1991 den immer noch grundlegenden MGH-Hilfsmittelband „Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms. Textstufen – Frühe Verbreitung – Vorlagen“, der aus Pokornys Interesse an der Kanonistik erwachsen war. Dass der strenge und äußerst kritische Hartmut Hoffmann den jungen Gelehrten als Assistenten nach Göttingen geholt hatte, sagt viel über dessen Fähigkeiten aus.
Pokornys Habilitationsprojekt sollte dann allerdings einer anderen Thematik gelten: dem als Ergebnis des Vierten Kreuzzuges entstandenen Lateinischen Kaiserreich. Auch hierzu publizierte er neue Quellenfunde. Nach Ende seiner Göttinger Zeit hoffte Pokorny, die Habilitationsschrift während seiner Zeit als Leiter des Deutschen Studienzentrums in Venedig in den Jahren 1997 bis 2000 voranbringen zu können. Dies gelang jedoch nicht, da er ganz in dieser Aufgabe aufging – bis hin zur Beschäftigung mit den baulichen Problemen des altehrwürdigen Palazzo Barbarigo della Terrazza. Venedig als Lebensort lag ihm sicher mehr als die MGH, zu denen er mir einmal anvertraute, in diesen Räumen könne es einem passieren, dass man nicht wisse, ob Sommer oder Winter sei und erst Jahre später realisiere, wieviel Zeit vergangen sei. Als seine Zeit in Venedig endete, bot der damalige MGH-Präsident Rudolf Schieffer im Oktober 2000 Pokorny eine Mitarbeiterstelle an und übertrug ihm die Redaktion des Aufsatzteiles des Deutschen Archivs. Sein Editionsprojekt sollte die Aufarbeitung der Bodensee-Chronistik des 11. Jahrhunderts werden, in deren Kontext Pokorny mit dem sog. Chronicon Duchesne wiederum einen Neufund zu verzeichnen hatte; jedoch blieb dieses Projekt bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2015 unvollendet. 2010 erschien hingegen als Resultat seiner Arbeit in der MGH-Reihe Studien und Texte „Augiensia. Ein neuaufgefundenes Konvolut von Urkundenabschriften aus dem Handarchiv der Reichenauer Fälscher des 12. Jahrhunderts“.
Als ich Rudolf Pokorny 1988 bei den MGH kennenlernte, fand ich seine elegante, modebewusste Erscheinung und seine lässige Art, mit der er das Institut betrat, ungewöhnlich. An den üblichen Beginn der Arbeitszeit zwischen 9 und 10 Uhr konnte er sich nie recht gewöhnen. So hatte er 1987 vermutlich leichten Herzens die MGH verlassen, kehrte aber schließlich im Jahr 2000 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zurück. Erleichtert gab er später die Last der Redaktionsarbeit und andere Aufgaben ab und widmete sich ganz seinen Forschungen. Daher wurde Pokorny schnell vom Bibliothekspersonal vermisst, als sein Arbeitsplatz im Lesesaal ungewöhnlich lange leer blieb. Am vergangenen Donnerstag ist Rudolf Pokorny nach kurzer schwerer Krankheit gestorben.
Die Monumenta Germaniae Historica werden Rudolf Pokorny ein ehrendes Andenken bewahren.
Martina Hartmann
Präsidentin der MGH