Im August hatte ich das einmalige Vergnügen, unterstützt durch den Förderverein Pro arte edendi – Freunde der MGH e. V., als MGH-Fellow einen Monat in München bei den Monumenta Germaniae Historica zu verbringen. Während dieser Zeit habe ich morgens originale ottonische Herrscherurkunden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv eingesehen und nachmittags bei der MGH (gleich um die Ecke) meine Funde niedergeschrieben sowie seltene Sekundärliteratur nachgeschlagen.
Diese einzigartige Kombination ermöglichte viele neue Erkenntnisse und Entdeckungen. Auf die vielleicht wichtigste bin ich in meiner letzten Woche in München gestoßen: auf das Original von MGH D O I. 161, einer Zollurkunde für das Bistum Worms aus den frühen 950er Jahren. Theodor von Sickel und seine Mitarbeiter, die es im späten 19. Jahrhundert für die MGH edierten, kannten dieses Diplom nur aus der kopialen Überlieferung. Erst 1931 hat Paul Kehr in der Einleitung seiner Edition der Urkunden Heinrichs III. der Gelehrtenwelt auf das Original aufmerksam gemacht. Da Kehr aber nicht mehr dazu zu sagen hatte, nahm man seine Äußerungen kaum zur Kenntnis. Das Marburger Lichtbildarchiv hat Januar 1956 das Original fotografiert und Irmgard Fees wies darauf in ihrem unschätzbaren Abbildungsverzeichnis der europäischen Kaiser- und Königsurkunden hin. Eine Abbildung (offensichtlich aus dem Marburger Lichtbildarchiv) befindet sich auch in den Online-Ergänzungen zu den MGH Diplomata. Ansonsten nahmen Diplomatiker und Landeshistoriker (mich eingeschlossen) jedoch Kehrs Entdeckung überhaupt nicht wahr. Ein Grund dafür ist die derzeitige Aufbewahrung des Originals im Geheimen Hausarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, dem alten Wittelsbacher Familienarchiv, das nur mit Zustimmung des Chefs des Hauses zugänglich ist – eine nicht unerhebliche zusätzliche administrative Hürde.
Was hat das Original zu sagen? Am besten fangen wir mit den kurzen Bemerkungen Hartmut Hoffmanns an – der einzige, der es näher besprochen hat (in einer Fußnote). Sickel hatte D O I. 161 aufgrund der Formulierungen dem einflussreichen Diplomschreiber Brun A (BA) zugesprochen und damit als vorletzte Leistung dieses Notars sowie möglicherweise als spätestes von ihm erhaltenes Original eingestuft, denn D O I. 164 (die letzte Urkunde BAs) ist nur abschriftlich überliefert. Wie allerdings Hoffmann anmerkt, gehört die Schrift keineswegs BA: Die Schnörkel auf den Oberlängen sind von denjenigen BAs grundverschieden, ebenso die Formen von h und g. Die Gestaltung weist auf Einfluss von BA (vor allem das Chrismon, das Protokoll und die Datierungszeile) hin; die Niederschrift oblag offensichtlich einem anderen Schreiber. Hoffmann identifizierte diesen anderen vorläufig als Hildibald B (HB), den leitenden Hofnotar der späten 970er und 980er Jahre, der wahrscheinlich auch für die berüchtigten Wormser Fälschungen verantwortlich war. Hoffmann erkannte bereits, dass diese Identifizierung Fragen zur Echtheit dieser 951 datierten Urkunde aufwirft – Fragen, zu deren Beantwortung er zu seiner Zeit nicht in der Lage war.
Die Prüfung des Originals zeigt jedoch, dass D O I. 161 nicht von HB ausgefertigt wurde. Obwohl die Schreiberhand große Ähnlichkeit mit der von HB aufweist, vor allem in der Form von g und d, gibt es gewichtige Unterschiede, insbesondere bei h, x, und ę; darüber hinaus verwendeten die Schreiber unterschiedliche Abkürzungen. Die Hand von D O I. 161 taucht jedoch noch einmal im Diplomkorpus auf: in D O I. 84, einem Privileg des Jahres 947 zugunsten Worms. Letzteres hat man bisher HB zugeschrieben. Angesichts D O I. 161 wird jedoch klar, dass wir es mit einem ganz anderen Notar zu tun haben, der 947 und 951 für Worms tätig war und möglicherweise daraufhin HB ausgebildet hat. Das hat erhebliche Folgen für die Datierung und Echtheit dieser Urkunden, die eine eingehende Untersuchung an anderer Stelle erfordern...
Mehr über seine Forschungen berichtet Dr. Levi Roach im Online-Vortrag am 23.2.23.